Netzwerktreffen 6.-7. Septemer 2021

Stefan Willer (HU Berlin) verwies in seinem Eröffnungsstatement zunächst auf die beiden Ebenen, auf die sich der Evidenz-Begriff erstreckt. Als Argumentationselement besitzt Evidenz Beweiskraft ohne Beweisführung. Der Augenschein ist als alleiniger Beleg ausreichend. Evidenz ist aber auch ganz wesentlich auf die Ebene der Visualität bezogen und kann neben der Sichtbarkeit auch als Schein verstanden werden. Von diesem Befund ausgehend machte Willer deutlich, dass bei der Verwendung bzw. dem Verweis auf Evidenz die Kritik an ihr immer schon mitläuft. Als auf sich selbst verweisende Begründung sei Evidenz eng mit Evidenzskepsis verbunden. Ausgehend vom Beispiel des Zitats fragte Willer dann danach, wie philologisches Arbeiten beim Zitieren Evidenz schaffen und welche Konsequenzen daraus auf die philologische Illustration gezogen werden können. Mit Blick auf die Geschichte der Hermeneutik (Bernays, Schleiermacher) zeigte Willer, wie der Import von Fremdem in die eigene Schrift einerseits zum ethisch-methodischen Problem werden kann, da das Zitat aus einem fremden Werk stets geprüft und (mit den eigenen Augen) beglaubigt werden muss, andererseits aber z.B. durch den exzessiven Gebrauch von Fußnoten, schriftbildlich die Bezüglichkeit zweier Texte bzw. Passagen dargestellt werden soll.

In seinem Beitrag „Philologische Evidenz zwischen Behaupten und Zeigen“ untersuchte József Krupp an zwei Beispielen, welche Rolle Behaupten und Zeigen im Prozess der philologischen Evidenzherstellung spielen. Den ersten untersuchten Fall bildete ein Kapitel von Gian Biagio Contes „Parerga virgiliani“, in dem auf diskursiv-methodologischer Ebene über philologische Evidenz nachgedacht wird. Conte unterscheidet zwischen einer psychologischen und einer objektiven Evidenz: die psychologische Evidenz gehöre zur Überzeugung und werde mit einem subjektiven Gefühl assoziiert, während die objektive Evidenz von Beweisen abhänge. Krupp fragte danach, welche argumentativ-rhetorischen Strategien Conte verfolgt, wenn er über die Parallelstellen als positive und negative Beweise spricht, und wie durch Behauptungen, auf performative Weise, Evidenz hergestellt wird. An einem kurzen Artikel von Paul Maas „Aeschylus, Agam. 231 ff., illustrated)“ zeigte Krupp zudem, wie Behaupten und Zeigen in einer grundsätzlichen Form philologischer Praxis, dem Vergleichen, zusammenfallen können, und wie dabei mit Evidenzeffekten umgegangen wird. In Maas‘ Artikel, der eine extreme Form der Kürze darstellt, indem er nur ein Zitat und die Abbildung eines Vasenbildes enthält, bleibt vieles implizit. Krupp untersuchte die medialen Aspekte der Evidenzherstellung, deren Struktur er wie folgt beschrieben hat: Behaupten in Form des Zeigens.

In einer Lektüresitzung wurde Peter Szondis Traktat „Über philologische Erkenntnis“ als eines der wichtigsten Dokumente des philologietheoretischen Diskurses diskutiert, in dem Evidenz thematisiert wird. Dabei wurde die Frage untersucht, welche Rolle der Autor dem „Beispiel“ in der Philologie zuschreibt. In der Lektüre hat sich gezeigt, dass Szondi bestrebt zwei Zuordnungen abzubauen: einerseits dass die Singularität des Kunstwerks nur für eine subjektive Erfahrung zugänglich ist, andererseits dass die objektive Erfahrung nur allgemeine Regeln erfassen kann. Das Besondere des Szondischen Evidenzbegriffes scheint zu sein, dass er in einem Projekt verortet wird, das die Individualität des Kunstwerks objektiv zu erkennen und innerhalb der subjektiven Erfahrung Objektivität zu erreichen postuliert.

In ihrem Beitrag „Szondis ›philologische Erkenntnis‹. Eine Erläuterung“ hat Na Schädlich den Begriff der Evidenz in Szondis Traktat zu identifizieren und zu erklären versucht. Schädlich verortet Szondis Text in seinem disziplinhistorischen Kontext und stellt insbesondere drei Aspekte der Tradition(en) in den Vordergrund: 1) Szondis Verhältnis zur Schleiermachers Hermeneutik nach dem Ideal einer ›strengen‹ Wissenschaft der Philologie, 2) seine Auffassung vom Lesen der dichterischen Texte auf der Grundlage der Sprachreflexionen der symbolistischen Lyrik um 1900, und 3) sein methodologisches Postulat der „Logik des Produziertseins der Werke“ in der Nachfolge Adornos. Den dargestellten Traditionsbezügen gemäß bildet für Szondi eigentlich der »dichterische Vorgang« den Gegenstand der philologischen Lektüre. Und dementsprechend könne laut ihm das der poetischen Dynamik gewidmete Lektüreverständnis „Evidenz“ erlangen – welche letztlich eine fortgeschrittene Stufe der strengen Verstehensarbeit meint. So kann Szondi von seinem Evidenzbegriff ausdrücklich behaupten, dass philologischer „Beweis“ und philologische „Erkenntnis“ eine Symbiose bilden.

Eva Noller betrachtete in ihrem Beitrag „Parallelomania. Kommentarpraxis und Evidenz“ die Rolle von Praktiken der Evidenzherstellung in der Philologie, genauer in der Textkritik. Dabei ging sie von der Beobachtung aus, dass in der Textkritik mit Plausibilitätsargumenten gearbeitet wird, die z.T. Überschneidungen mit einem Verständnis von Evidenz aufweisen, das in einer grundlegenderen Bedeutung als aus sich selbst heraus Erkenntnis schaffendes Moment zu fassen ist. Daraus entwickelte sie ihre These, wonach die klassisch-philologische Praxis des Kommentierens häufig auf kumulative Verfahren der Evidenzherstellung zurückgreife. Den kumulativen Praktiken liege die unausgesprochene Annahme zugrunde, sie seien aus sich heraus evident. An der Praxis der Aufführung von Parallelstellen in Kommentaren führte Noller dann vor, wie dabei Evidenz hergestellt wird.