Netzwerktreffen 28.-29. April 2022

In ihrem Eröffnungsstatement sprach Sabine Müller-Mall (TU Dresden) über Produktion und Rezeption von Augenscheinlichkeit, wobei sie danach fragte, wie Evidenzerfahrung hergestellt und erkannt werden kann; ‚Erfahrung‘ soll hier als ein ästhetisches Konzept verstanden werden. Müller-Mall erläuterte wesentliche Unterschiede von Recht und Literatur, indem sie feststellte, dass in jenem die Urteile notwendig, in diesem kontingent sind. Im Falle von Evidenz wird keine Alternativlosigkeit postuliert. Evidenz muss nicht nachvollziehbar und reproduzierbar sein und muss nicht aufgeführt werden: Sie ist subjektiv. Müller-Mall formulierte zudem drei Techniken der Evidenzerzeugung in der Rechtswissenschaft: Die Darstellung der Begründung von Urteilen, die Inszenierung in Verfahren (z.B. in der mündlichen Verhandlung) und den Rekurs auf Erfahrung.

Christian Neumeiers Beitrag „Die (Un-)sichtbarkeit des Rechts. Über Figuren der Inversion in Franz Kafkas Process“ geht von der Beobachtung aus, dass Inversionen auf unterschiedlichen Ebenen des Textes eine zentrale Rolle spielen. Gleich im ersten Satz des Romans lässt sich beispielsweise eine auktoriale Umkehr von Urteil und Geschehen sowie eine juristische Umkehr von Tat und Verhaftung ausmachen (das Urteil geht dem Verfahren voraus; Urteil wird delegitimiert, da keine Gründe angegeben werden). Ausgehend von diesen Figuren der Inversion formulierte Neumeier die Frage, ob – auf die Ebene der Rhetorik bezogen – Evidenz nicht ebenfalls eine inverse Figur ist, da sie Rede sei, die zum Schweigen auffordere: Was evident sei, müsse eigentlich nicht eigens betont werden – gleichwohl werde der Begriff eben gerade in diesen Kontexten besonders häufig bemüht und auch im Process fänden sich zahlreiche solcher Evidenzbehauptungen („starke Evidenz“, die keinerlei Begründung bedarf). Im zweiten Teil seiner Ausführungen geht Neumeier auf die Bedeutung von Evidenz in den Rechtswissenschaften ein und stellt dabei eine paradoxe Funktionsweise fest: Soll das Evidenzkriterium nämlich in Anspruch genommen werden, bedarf es einer besonders ausführlichen Begründung („schwache Evidenz“).

In ihrem Beitrag „Text und Telos. Über mögliche Funktionen und Grenzen von Evidenzargumenten in der Rechtsinterpretation“ thematisiert Ariane Grieser das Verhältnis von Evidentsein und Evidentmachen. Sie spricht von einem Dreieck der Evidenz, in dem Subjekte sowohl mit dem Evidenzgegenstand als auch miteinander verbunden sind. Die Einsichtigkeit auf der subjektiven Ebene muss nämlich intersubjektiv reproduzier- und vermittelbar sein: Hier spielt Evidentmachen als intersubjektive Praxis eine wesentliche Rolle. Grieser zeigt, dass neben den Unterschieden zwischen Rechtstexten und literarischen Texten ein grundlegender gemeinsamer Punkt der beiden Textsorten die Begegnung von Bewusstsein ist, die im Medium sprachlichen Ausdrucks vollzogen wird. Den Ausgangspunkt bildet die Frage, welche Rolle eine unsichtbare und zugleich evidente, intersubjektiv geteilte Intentionalität in den natürlichen Sprachen spielt. Anhand von Wolfgang Stegmüllers Rationaler Rekonstruktion von Wissenschaft und ihrem Wandel spricht Grieser von einer hergestellten/zweiten Unmittelbarkeit, die im Prozeß wissenschaftlicher Rationalisierung und Reflexion erzeugt werden und zu einer relativen Evidenz führen kann, die sich dreifach charakterisieren lässt: ihr unmittelbares Moment besteht in der Stimmigkeit der rationalen Rekonstruktion, sie ist entsprechend intersubjektiv vermittelbar und enthält die grundsätzlichen Elemente, die auch im Falle der Rechtsinterpretation zur Anwendung kommen, wobei die Hypothese über das Normtelos die Rolle der Interpretationshypothese übernimmt.

In Kathrin Winters Beitrag „Die Hauptsache ist sekundär. Evident sein und evident machen in der Philologie“ wird Evidentsein und Evidentmachen in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit dargestellt. Ausgangspunkt der Erörterung ist der Gedanke, dass Philologie immer sekundär ist, weil ihr ein anderer Text vorausgeht. Philologische Evidenz bewegt sich allerdings zwischen den beiden Ebenen des Primär- und des sekundären Textes. Winters Beispiel ist der Kommentar des Quintus Asconius Pedianus zu Ciceros Rede in Pisonem. Daran wird gezeigt, wie der Text des Kommentars auf den Verstehenshintergrund seiner eigenen philologischen Äußerungen verweist und wie er gleichzeitig die Evidenz für die getroffenen Aussagen im Primärtext verortet, obwohl sich diese Evidenz überhaupt erst in der Fragestellung oder Erwartungshaltung des sekundären Textes als Evidenz begreifen lässt. Der sekundäre Text macht etwas evident und weist diese Evidenz zugleich als Eigenschaft des Primärtextes – als etwas, das sich „aus den Worten selbst“ ersehen lasse – aus. Diese Verquickung von Evidentmachen und Evidentsein findet sich laut Winter sowohl in Situationen, in denen explizit festgestellt wird, dass eine Aussage philologisch evident sei, als auch in solchen, in denen diese Feststellung implizit durch das (unkommentierte) Nebeneinanderstellen zweier Aussagen getroffen wird.

In seinem Beitrag „Evidenz und Jurisprudenz. Eine Annäherung“ ging Michael von Landenberg-Roberg der Frage nach der Evidenz von textbezogenen Urteilen aus der Perspektive der Rechtswissenschaften nach. Zunächst definierte er die zentralen Begrifflichkeiten: Zum einen durch eine begriffsstrukturelle Annäherung an den Evidenzbegriff, bei der unterschieden wird zwischen dem individuellen Evidenzerlebnis eines Subjekts und dem „Sozialphänomen“ Evidenz, dessen Kern darin besteht, dass bei der Übereinkunft über das Vorhandensein von Evidenz diese nicht thematisiert wird. Zum anderen differenzierte von Landenberg-Roberg die Gebrauchsweisen und Formen von Rechtstexten aus und nahm den Begriff der Rechtswissenschaft(en) aus einer rechtsinternen und einer rechtstexternen Perspektive in den Blick. Seinen Fokus richtete er dann auf die rechtswissenschaftlichen Perspektiven auf Evidenz, insbesondere auf die Funktion von Evidenz als Rechtskriterium. Anhand eines Anwendungsbeispiels veranschaulichte von Landenberg-Roberg abschließend die Evidenzherstellung im Prozess rechtlicher Argumentation, indem er die Evidenz normativer Regelungsintentionen untersuchte.