Netzwerktreffen 1.-2. März 2021

Im Zentrum des Treffens stand eine erste Bestandsaufnahme von Themen, Fragen und Ideen, die im Rahmen des Netzwerks in den kommenden zwei Jahren untersucht werden sollen.

In seinem Eröffnungsstatement sprach Jürgen Paul Schwindt über den philologischen Evidenzbegriff und seine Verbindung zur sinnlichen Leistung bzw. Erkenntnisweise der Philologie. Schwindt nahm Bezug auf Ciceros und Quintilians Rhetoriktheorie, um auf zwei für (rhetorische) Evidenz zentrale Charakteristika hinzuweisen. Zum einen hat Evidenz einen sistierenden Charakter. Sie kann einen (philosophischen) Diskurs zum Stillstand bringen oder abbrechen, da sie durch ihre unmittelbare Einsichtigkeit ohne eine argumentative Plausibilisierung auskommt. Zum anderen besitzt Evidenz eine „Zeigestruktur“. Sie verweist durch sich nicht auf etwas anderes (perspicuitas/Durchsichtigkeit), sondern auf sich selbst. Vor diesem Hintergrund wird Evidenz zu einer unwiderleglichen Form der Mitteilung, die nicht auf rationale Erkenntnis-Operationen angewiesen ist.

Ob Evidenz, wie Schwindt postuliert, aus sich selbst heraus wirkt, oder ob sie hergestellt wird, bildet eine zentrale Frage, die von allen Vorträgen beleuchtet wurde. Eva Noller machte zunächst auf die Schwierigkeiten aufmerksam, die mit einer Untersuchung des Evidenzbegriffs einhergehen. Zu konstatieren, ein Sachverhalt sei evident, bilde meist zugleich den Anfangs- und Endpunkt einer Untersuchung, so dass sich ein Zirkel bilde, in dem Evidenz evident gemacht werde. Anhand eines Beispiels aus Lukrez’ De rerum natura legte sie dar, wie dauerhaft der Eindruck von Evidenz sein kann: Ein Bild oder einen Vergleich als evidenten Ausdruck eines bestimmten Sachverhalts zu erklären, kann scheinbar bewirken, dass der Eindruck der Evidenz erhalten bleibt, ganz unabhängig davon, ob die Veranschaulichung tatsächlich konsistent mit dem zu Veranschaulichenden ist. Der rhetorisch vermittelte Eindruck der Evidenz kann so nicht nur logische Inkonsistenzen einer Darstellung überbrücken, er verschwindet auch nicht einfach wieder. In Zusammenhang damit steht die Frage, ob neben dem Postulat, etwas sei evident, auch ein quantitativer Aspekt (kumulative Evidenz) bei der Herstellung von Evidenz eine Rolle spielt.

Mit ihrer Untersuchung des chinesischen Begriffs xiang („Bild/Zeichen“) wies Na Schädlich auf die Methode der Evidenz-Herstellung einer anderen Schriftkulturtradition hin. Der Blick auf die altchinesische Philologie wird von der komparatistischen Frage geleitet, inwiefern der Begriff der ›philologischen Evidenz‹ im Sinn der deutschsprachigen Wissenschaftsgeschichte, schließlich auf Peter Szondis moderne, literarische Hermeneutik zurückgehend, eine „Universalität der philologischen Rationalität“ haben kann. Als scheinbar technischer Begriff im Kommentarteil zu einem piktorialen Orakelbuch erzeugt xiang Kohärenz, wenn es den Schein eines organischen Übergangs von der Bildlogik des Orakelbuchs zur Sprachlogik des Kommentarteils hervorbringt. Es stellt sich hier – bei der ersten Betrachtung – die Frage, ob xiang ein rein rhetorisches Konzept oder eine Auslegungs-/Erkenntnisform ist, die jenseits der Rhetorik operiert.

Die Bedeutung des Kommentars oder einer anderen Form der Rahmung für die Entstehung von Evidenz machte Pál Kelemen deutlich. Evidenz stellt sich nicht als den Dingen innewohnendes „Sich-Zeigen“ dar, Evidenzen unterliegen vielmehr bestimmten Verfahren der Herstellung. Kelemen unterscheidet zwischen epistemischer Evidenz, bei der die Evidenz-herstellende Rahmung unsichtbar gemacht ist, und rhetorischer Evidenz, die ihre Rahmung immer sichtbar bzw. explizit macht (vgl. Blumenberg). Der Prozess des Edierens von Texten stellt einen Fall dar, in dem sich die Herstellung von Evidenz besonders gut beobachten lässt, da Edieren immer auch eine Form der graphischen Evidenzerzeugung ist. Gleichzeitig können bestimmte Editionsformen wie eine synoptische Textpräsentation eine „Selbststörung“ der philologischen Evidenzverfahren erzeugen, da hier explizit gemacht wird, wie die Evidenz hergestellt wird.

Kathrin Winter beleuchtete in ihrem Vortrag die Evidenzverfahren, die in der Textkritik Anwendung finden. Auch hier tritt wieder der Produktionsaspekt der Evidenz in den Vordergrund, der aber paradoxerweise meist auf einer unbegründbaren Grundlage steht (ope ingenii). In der Textkritik tritt besonders deutlich hervor, wie Evidenz als unmittelbare Gewissheit eintreten kann, die keiner Argumentation bedarf. Gleichzeitig lässt sich aber zeigen, dass gerade dieser „Evidenz-Effekt“ der scheinbaren Unmittelbarkeit eine Konstruktion des Philologen ist.

Im Vortrag von Michael von Landenberg-Roberg wurde Evidenz zum einen als Rechtskriterium nach ihren unterschiedlichen Funktionen (Ausbalancierung von Kontrollrelationen zwischen Institutionen, Ausdifferenzierung von Fehlerregimen, Entlastung von Institutionen durch Ressourcenschonung) und Bezugspunkten hin untersucht. Zum anderen die Frage nach Evidenz von Recht und rechtlichem Wissen aus einer rechtsexternen Perspektive betrachtet. Es wurde gezeigt, dass man im Bezug auf die rechtsimmanente Verwendungsweise des Evidenzbegriffs von unterschiedlichen Herstellungs- bzw. Darstellungsweisen von Evidenz je nach Funktion, Bezugspunkt und relevanter Perspektive sprechen kann. Es wurde dafür argumentiert, dass mit Evidenz im Recht, soweit der Evidenzbegriff als Rechtsbegriff selbst auf rechtliche Wertungen referiert, letzten Endes immer nur in Form einer mittelbaren Evidenz praktisch operationalisiert werden kann: eine unmittelbare Einsichtigkeit, wie sie für den Evidenzbegriff z.T. in anderen Kontexten proklamiert wird, ist hier regelmäßig nicht gegeben.  Auf dieser Basis wurde die Fragestellung umgerissen, die im Projekt untersucht werden soll. Es geht um die „Evidenz normativer Intentionen“ und um eine Einzelstudie, die den Willen des Normsetzers als Argument beleuchten soll.

Auch in Christian Neumeiers Vortrag wurde, anhand einer komparativen Untersuchung von Literatur- und Rechtwissenschaft in Hinblick auf Evidenz, danach gefragt, welchen Status Evidenz im Recht hat. Es wurde gezeigt, dass die starke Form von Evidenz eine fremde Kategorie in der Rechtwissenschaft darstellt, da diese gerade auf die Abwesenheit von Evidenz baut. Die starke Form der Evidenz bedeutet nämlich, dass was evident ist, nicht bestritten werden kann. Das stellt eine paradoxe Rede dar, die zur Verkürzung von Begründungen und gar zum Schweigen einlädt. Da es im Recht nicht um athematisches Lesen, sondern um eine kollektive soziale Praxis geht, spielt hier Beweisbarkeit und Nachweisbarkeit eine wesentliche Rolle. Im Vortrag wurden Themenkomplexe untersucht, in denen Evidenz in Bezug auf Recht vorkommt. Es wurde gezeigt, dass das Reden über Evidenz hier meistens nicht dem juristischen Diskurs entspricht. Im hermeneutischen Zusammenhang, bei den Analysen von Gesetzen, kann man selten von einem Evidenzerlebnis sprechen. Anhand eines Beispiels wurde untersucht, welche Bedeutung im Recht der Offensichtlichkeit zukommt.

Matthias Attig beleuchtete in seinem Vortrag, welche Bedeutungen Evidenz in der Sprachwissenschaft hat. Auf der einen Seite steht hier eine „subjektive Evidenz“, wie man sie etwa in Peter Szondis semantischen Überlegungen beobachten kann, etwa wenn die Deutung eines Satzes als „klar“ charakterisiert wird. Auf der anderen Seite kann man eine „objektive Evidenz“ als Kategorie für sprachliche Materialität und bestimmte formal-sprachliche Elemente ansetzen. Beobachtet man aber Interpretationen, die mit solchen Feststellungen operieren, so kommt man zum Ergebnis, dass es schwer fällt, subjektive und objektive Evidenz zu trennen und dem Evidenzbegriff im Rahmen einer konstruktivistischen Sprach- und Textkonzeption eine konsistente Fassung zu verleihen. Als anvisiertes Projekt wurde daher im Vortrag eine Untersuchung genannt, die sich dem Evidenzbegriff selbst zuwendet und Evidenzkonzepte und -zuschreibungen in der Philologie behandelt.

Auch im Vortrag von József Krupps ging es um die Verwendungsweisen des Begriffs „Evidenz“, nämlich in der Philologie. Im Mittelpunkt der Untersuchung stand die Frage, wie die philologische Tätigkeit in Relation zu Evidenz reflektiert wird, und wie dies im Bereich der Theorie der Philologie thematisiert wird. Anhand ausgewählter Textstellen wurde dargestellt, dass die Aktivitäten, die in interpretativ-theoretischen Texten mit Evidenz verbunden werden, eine große Bandbreite von einem Maximum an Handeln des Philologen bis zum Nicht-Handeln aufzeigen. Wenn man die Rhetorik von philologischen Arbeiten untersucht, in denen von Evidenz die Rede ist, kann man von als „Gefühl“ artikulierter Evidenz bis zu einer deiktisch formulierten Evidenz, die man in eine methodologisch-technisch reflektierte Argumentation miteinbezieht, verschiedene Variationen beobachten. Im Vortrag wurde die Fragestellung als angestrebtes Projekt formuliert, inwiefern man eine implizite Evidenz in der philologischen Gattung Kommentar aufdecken kann.