Netzwerktreffen 1.-2. September 2022

Das vierte und letzte Treffen diente zur Diskussion weiterer Beiträge und theoretischer Texte, darüber hinaus stand die Zusammenführung und Diskussion der Ergebnisse im Zentrum.

Pál Kelemens Beitrag „Fakt und Evidenz. Science Studies und Philologie“ versteht sich als ein Beitrag zu einer praxeologisch orientierten Wissenschaftsgeschichtsschreibung, und untersucht die Herstellung von philologischer Evidenz aus der Perspektive der science studies. Als Hintergrund dienen dabei Robert Boyles Experimente, wie sie von Bruno Latour beschrieben werden. In dieser Urszene der modernen Naturwissenschaften wird ein setting hergestellt, das mit dem setting besonderer philologischer Schreib- und Leseszenen vergleichbar ist. Kelemen knüpft eine Verbindung zwischen der im Rahmen der Rhetorik behandelten Evidenzherstellung und der in den science studies behandelten Faktenherstellung, indem er zeigt, dass es in beidem Falle um eine unmittelbare Anschaulichkeit geht, sei sie technisch oder in der Rede hergestellt, und dass dieser Herstellung ein Prozess der Formalisierung innewohnt. Kelemens Analyse gilt dem philologischen Kollationieren und den Kollationsmaschinen, die den nichtsemantischen Vergleich fördern. Er zeigt, dass in der Editionspraxis, vom Arrangement des Materials bis zur wissenschaftlichen Ausgabe, in verschiedenen Szenen Visualisierungen stattfinden. Das untersucht er in zwei Bereichen. Im Falle von Kollationsprotokollen erforscht er die Rolle der Tabellen, die im Zeichen der „Rhetorik des Vor-Augen-Legens“ die Evidenz realisieren (Rüdiger Campe). Der Philologe wird dabei in seinem antrainierten hermeneutischen Lesen gehemmt und auf ein diagrammatisches Ablesen hingeführt. Im Prozess des Vergleichens der Texte beobachtet er die Bewegung von der Schrift als Text zur Schrift als Inskription und analysiert eine wissenschaftliche Praxis, in der die Handlungsmacht den Dingen selbst zukommt.

In einer gemeinsamen Lektüre wurde ein Auszug aus Gadamers „Wahrheit  und Methode“ diskutiert („Wiedergewinnung des hermeneutischen Grundproblems“). Eine zentrale Rolle spielte hierbei der Begriff der Applikation. Während bei Gadamer mit Blick auf einen theologischen oder juristischen Hintergrund klar zu differenzieren ist, worin die verstehende Applikation des Verstehens jeweils besteht (z.B. in der Predigt oder in der Rechtsprechung), war der Anwendungsbereich in den Geisteswissenschaften weniger klar zu deduzieren. Die Applikation in den Geisteswissenschaften, wie sie Gadamer darstellt, besteht letztlich in der Möglichkeit der Wiedergewinnung des Sinns über die Verschmelzung des Entstehungshorizonts und der Gegenwart, d.h. in der lebendigen Inbezugsetzung des Einzelnen zur Überlieferung. Ein weiterer wichtiger Diskussionspunkt bildete die Frage nach dem Begriff des Verstehens und dessen Geltung bei Gadamer. Anders als in der „Romantischen Hermeneutik“ in der Tradition Schleiermachers geht es Gadamer nicht um ein Sich-Hineinversetzen in ein anderes Subjekt und den Nachvollzug von dessen Verstehen. Gadamer geht vielmehr von (implizit) geteilten Horizonten aus, die ein allgemeines Verstehen ermöglichen. Hier liegt auch ein wichtiger Bezugspunkt zum Begriff der Evidenz, da eines ihrer zentralen Elemente in der intersubjektiven Übereinstimmung besteht. Zuletzt wurde darüber nachgedacht, welche Rolle Evidenz bei der philologischen Applikation eines Artefaktes spielen kann.